Projekt Nachtleben
Illegale Substanzen sind fester Bestandteil des Luzerner Nachtlebens. Eine Reportage über Chemie aus Amsterdam, verriegelte Club-Toiletten und gesellschaftliche Ängste.
Anton Kuzema — 11/16/22, 09:03 AM
Drogen sind im Nachtleben omnipräsent, bleiben aber meist im Dunkeln. (Fotos: zvg)
Die meisten Personen in diesem Text wollen anonym bleiben. Das verwundert nicht. Es geht um Drogen. Nicht nur sind sie illegal – wer sie konsumiert, wird gesellschaftlich stigmatisiert. Und dennoch sind Drogen aus dem Luzerner Nachtleben nicht wegzudenken. Wieso ist das so? Woher stammen die Rauschmittel? Wer konsumiert sie? Und weshalb?
Ich habe Menschen durch die Nacht begleitet, die mir authentische Einblicke in ihren Umgang mit Drogen gegeben haben. Um ihre Anonymität zu gewährleisten, wurden neben Namen auch Orte und Daten weggelassen.
Stille Vereinbarung an der Clubtür
Bevor wir nach ein paar Bier in verschiedenen Bars in einen Luzerner Club gehen, werden alle illegalen Substanzen in Socken, Unterwäsche und BHs versteckt. An den Türen der Clubs werden meistens nur Oberkörper und Oberschenkel abgetastet, vermutlich um Waffen und gefährliche Gegenstände zu identifizieren. So bleiben die Drogen unentdeckt. Es wirkt wie eine stille Abmachung zwischen Clubbetreiber*innen und Konsument*innen: Wir finden eure Drogen nicht und ihr konsumiert nur da, wo wir euch nicht sehen können.
Speed ist unter Partygänger*innen ein beliebter Energiebooster.
Konsumiert wird auf der Toilette. Der Aufenthalt in der geschlossenen Kabine ist wohl derjenige Aspekt eines rauschmittelbegleiteten Ausgangs, der sich für mich am deutlichsten vom Ausgang ohne chemische Substanzen unterscheidet. Wir befinden uns auf der Männertoilette, da sich dort seltener eine Schlange vor der Kabine bildet. Auf dem Spülkasten findet sich praktischerweise eine stehtischhohe Ablage. Konsumiert wird Pep, beziehungsweise Speed – also Amphetamin. Pep hält vor allem wach und ermöglicht ein stundenlanges Tanzen.
«Du kannst dich auf den Status Quo peppen»
Konsumierende Person
Pep verdränge laut meiner Begleitung auch die wahrgenommene Wirkung von Alkohol und «du erreichst deine relative Nüchternheit». Es wirke wie ein Schleier, der sich über die verschwommene Sicht und die wackligen Beine beim Alkoholkonsum legt. Trügerisch fühle man sich klarer. «Du kannst dich auf den Status Quo peppen», aber «später kackst du ab, weil die Toleranz steigt und du nicht merkst, wie viel du trinkst». Zudem warnen Suchtexpert*innen von weiteren Nebenwirkungen wie Herzrasen oder Muskelkrämpfen.
Speed ist zunächst eine Paste, die getrocknet werden muss.
Pep wird zu einer Paste hergestellt und ist dementsprechend feucht. Auf dem Smartphone-Bildschirm, welcher auf der Ablage über der Toilette liegt, wird die noch feuchte Substanz mit einer Kreditkarte ein paar Mal glatt gestrichen und anschliessend mit dem Kartenrand wieder kleingehackt. So gelangt Luft schneller an alle Partikel und der Trocknungsprozess dauert nur etwa zwei Minuten. Sobald es trocken genug zum Ziehen ist, werden Lines – also circa 5 bis 10 Zentimeter lange Linien – auf den Smartphone-Bildschirm gelegt. Nebenher wird geraucht und über Belanglosigkeiten gequatscht.
Gezogen wird nacheinander durch die Safer-Sniffing-Blättchen, die mir Nadine mitgegeben hat. Nadine arbeitet bei DILU, der Drogeninformation Luzern. Das Pilotprojekt des Vereins Kirchliche Gassenarbeit bietet seit zwei Jahren Drogentests an. Konsumierende können also ihre Substanzen anonym einreichen, um sie auf Streckmittel, Zusammensetzung und Synthesenebenprodukte untersuchen zu lassen. Denn oft sind Drogen mit unerwünschten Mitteln angereichert.
Die Beratungsstelle DILU untersucht Drogen auf unerwünschte Zusätze.
Beispiel Pep. Laut Nadine sind Amphetamine in der Regel von 10 bis 90 Prozent mit Koffeinpulver gestreckt. Gestreckt wird vor allem, um die Marge beim Verkauf zu erhöhen. Laut Nadine werden meistens Streckmittel verwendet, die beim Konsum nicht auffallen, weswegen Koffeinpulver das gängigste Streckmittel bei Amphetaminen sei.
Am Rand der Gesellschaft
Seit Projektstart sind bei der DILU 252 Proben eingereicht worden. Zum Test abgegeben wurden in etwa gleichen Anteilen MDMA, Amphetamin, Cannabis, Kokain und LSD. Laut Nadine hat sich die Auswahl der konsumierten Substanzen bei den Konsument*innen in den letzten Jahren nicht grossartig verändert. Aber: «Die Substanzen werden deutlich stärker, das heisst, der Anteil des Wirkstoff nimmt stetig zu.» Allerdings lässt sich von dieser Statistik nicht auf die tatsächliche Verteilung der konsumierten Drogen schliessen.
Die meisten Menschen, die bei der DILU Substanzen abgeben, sind zwischen 25 und 40 Jahre alt. Laut Nadine kommen vor allem Menschen zur DILU, die ihren Konsum vorbereiten wollen, sich Sorgen um ihre Gesundheit machen oder nachträglich etwas abgeben, wenn die Substanzen eine unerwünschte Wirkung ausgelöst haben.
«Wenn ich schon 10 Mal bei jemandem geholt hab’, gehe ich nicht das 11. Mal abgeben.»
Konsumierende Person
252 eingegangene Proben in zwei Jahren scheinen eher wenig. Daraus lässt sich schliessen, dass nur ein Bruchteil der konsumierten Drogen vorher getestet wurde. Doch wieso wird das Angebot bloss spärlich genutzt? Eine meiner Begleitpersonen sagt: «Wenn ich schon 10 Mal bei jemandem geholt hab’, gehe ich nicht das 11. Mal abgeben.»
Dazu scheint sich auch eine gewisse Skepsis gegenüber öffentlichen Einrichtungen zu mischen. Die meisten institutionellen Berührungspunkte mit der Drogenszene sind entweder problematisierend oder kriminalisierend. Die Polizei bestraft, das Gesetz verbietet, die Therapie repariert. Die Gesellschaft schweigt oder verteufelt den Drogenkonsum an den Rand der Öffentlichkeit und überlässt Drogenkonsument*innen ihrem Schicksal. Die DILU will dabei den entgegengesetzten Weg einschlagen: «Das Schöne an der DILU ist, dass sie ein Angebot ist, die Drogen nicht grundsätzlich als Problem sieht», sagt Nadine.
Haschisch per Schiff
Doch wie gelangen die Substanzen überhaupt nach Luzern? Darüber habe ich mit einem ehemaligen Dealer gesprochen. Vieles läuft über Basel. Die Stadt bietet für den Drogentransport gleich mehrere Vorteile. Sie liegt am Rhein und in unmittelbarer Nähe zu EU-Ländern. Ein wichtiger Punkt. Denn gerade Bestellungen aus dem Darknet werden innerhalb der EU deutlich weniger abgefangen als Lieferungen, die über die Schweizer Grenzen gehen.
Laut dem ehemaligen Dealer werden deshalb in Deutschland und Frankreich Postfächer eingerichtet, an die geliefert werden. Die Drogen dann per Personenverkehr in die Schweiz zu schleusen, sei sicherer. In Basel finden sich zahlreiche Grossdealer, von denen die Lieferungen abgeholt und in der gesamten Schweiz – so auch nach Luzern – mit dem Auto verteilt werden.
Auf Telegram hat sich längst ein digitaler Drogenbasar eingerichtet.
Die Herkunftsländer der Drogen sind dabei unterschiedlich. Cannabis und Haschisch kommen aus Marokko, werden mit dem Schiff nach Spanien transportiert und gelangen dann über Frankreich über die Grenze. Chemische Drogen kommen meistens aus den Niederlanden, insbesondere Amsterdam, und gelangen über den Rhein ebenfalls nach Basel.
Durch die Digitalisierung wurde die Stoffbeschaffung für die Konsumierenden deutlich einfacher. Früher musste im Darknet eine Software benutzt werden, um die eigene IP-Adresse zu verschlüsseln. Solche technischen Anforderungen fallen heute weg. Drogen können bequem über Telegram-Gruppen bestellt werden. Mit wenigen Klicks erhalte ich einen Überblick über die Substanzen und die Preise. Geliefert wird an eine Adresse nach Wahl.
Experiment am eigenen Körper
Bleibt die Frage nach dem Warum. Weshalb werden Drogen konsumiert, obwohl sie schädlich und illegal sind? Die meisten der Konsumierenden, mit denen ich gesprochen habe, sind sich einig: Das Streben nach Rausch ist ein menschliches Grundbedürfnis. Eine Person spricht von einem «Bedürfnis nach der Abwesenheit des Geistes». Genauso spielt die Flucht eine wichtige Rolle. Manche flüchten vor Traumata, andere von der Eintönigkeit des Alltags und brauchen Drogen als Gegenpol zur Arbeitswoche.
«Akustik: gedämpft
Optics
Geilheit
Film
Vitalität: ganz gut
Lethargie
Motorik: gut
Gesichtsmuskeln: Zitrone oder Sonnenblume»
Dieses Experimentieren ist jedoch ein Spiel mit Nebenwirkungen. Über diese sind sich die Konsumierenden, mit denen ich gesprochen habe, im Klaren. Viele sind nicht stolz auf ihren Konsum und sprechen warnende Worte aus. Es geht um hohes Abhängigkeitspotenzial, um Abwärtsspirale und dem durchs Raster fallen.