Aggressiv und manipulativ
Claude Hagen kommt aus einem schwierigen familiären Umfeld und hat dadurch psychische Schäden erlitten. Den Hauptgrund dafür sieht er bei seinem Vater. Eine Auseinandersetzung mit einem einstigen Idol.
Claude Hagen — 07/25/22, 12:00 PM
Claude Hagen verbrachte in seinem Elternhaus eine dunkle Kindheit. (Foto: Unsplash)
Ich erinnere mich noch gut an einen Familienausflug auf das Jungfraujoch. Ich war fünf Jahre alt und mein Vater schrie einen anderen Familienvater an, da dieser angeblich unser Viererabteil in der Bahn unrechtmässig besetzte. Während er den mutmasslichen Übeltäter mit Schimpfwörtern und Mittelfingern überhäufte, standen meine Mutter, mein Bruder und ich daneben und schämten uns in Grund und Boden.
Solche Szenen voller Fremdscham sind die präsentesten aus meiner Kindheit. Das Paradoxe daran: Bis in meine Dreissiger habe ich meinen Vater als liebevoll, geduldig und selbstlos beschrieben. Seine narzisstische Seite habe ich jahrzehntelang komplett verdrängt.
Mein Vater ist zwar nie offiziell mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden. Dies ist bei betroffenen Personen besonders schwierig, da ihre Bereitschaft an sich zu arbeiten und überhaupt zur Einsicht eines Problems zu gelangen, geringer ist. Ich spreche bei ihm von Narzissmus, da er zahlreiche Kriterien erfüllt und dies auch in Gesprächen mit Expert*innen klar zugeordnet werden konnte.
Geschrei als Familien-Ritual
Diese Kriterien dominierten grosse Teile meines Aufwachsens. Aggressionen, Streit, Misskommunikation, Opferverhalten sowie auch dominantes, patriarchales Auftreten seitens meines Vaters bestimmte unsere Familiendynamik. Der Aufbau einer ehrlichen, emotionalen Nähe zu ihm war beinahe unmöglich. Zu stark war die Angst seines unberechenbaren und unangebrachten Verhaltens, das eben auch in der Öffentlichkeit keine Schamgrenze kannte.
Dieses Verhalten zeigte sich allerdings nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch zur Genüge in unserem Daheim. Sagte meine Mutter etwas Falsches, gelang das Essen nicht, wie mein Vater sich das erhoffte oder war das Wetter einfach nur schlecht, wurde mein Vater aggressiv. Er schrie herum, zerstörte Dinge und verschanzte sich anschliessend im Zimmer oder lief davon. Die Mutter in Tränen aufgelöst, die ihren beiden Kindern wieder mal beibringen musste, dass der Vater gegangen ist. Und sie nicht weiss, ob er wieder zurückkommt. Schliesslich wurden Probleme nicht angesprochen, sondern totgeschwiegen.
Streit zwischen meinen Eltern, der regelmässig in Geschrei und dem Zerstören von Gegenständen gipfelte, gehörte in meiner Kindheit und Jugend zum täglichen Ritual. Zwar versicherten mir meine Eltern immer wieder, dass dies nichts mit mir und meinem Bruder zu tun habe. Doch verbale Zusicherungen bringen nur wenig, wenn das Verhalten zu ständigen Verunsicherungen und Verletzungen führt.
Diagnose Depression
Selbst als meine Eltern mich mit rund neun Jahren während eines erneuten Streits im ersten Stock auf dem Balkonrand sitzend und weinend auffanden, reichte dies offensichtlich nicht als Hilferuf ihnen gegenüber. Stattdessen trugen meine Eltern jahrzehntelang ihre Eheprobleme zwischen mir und meinem Bruder aus. Anstatt miteinander zu kommunizieren, involvierten sie uns in Probleme, die nicht unsere sind und wir gar nicht lösen konnten.
Das hinterlässt Spuren. Das unberechenbare Verhalten meines Vaters liess mich in ständiger Ungewissheit leben. In Kombination mit dem ohnehin schon stark belastenden emotionalen Familienumfeld führte das bei mir zur Diagnose Borderline/Depression.
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Wenig überraschend, wie kürzlich in einem SRF-Beitrag über narzisstische Elternteile berichtet wurde: «Untersuchungen zeigen, dass Kinder von Eltern, die psychische Erkrankungen haben, ein sehr hohes Risiko haben, selbst psychische Auffälligkeiten zu entwickeln. Bei Persönlichkeitsstörungen, zu denen auch der Narzissmus zählt, ist das Risiko viermal höher», sagt dort die Kinder- und Jugendtherapeutin Andrea Kramer.
Sechs Monate Psychiatrie
Im Alter von 15 Jahren folgte ein sechsmonatiger Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kriens. Selbstverletzung gehörte damals zu meinem Alltag und war eine gefestigte Sucht. Es war das Einzige, das mir die Kontrolle über meine Emotionen zurückgab. Meinen 16. Geburtstag feierte ich stationär – mit Personen, die ich kaum kannte und unter Medikamenteneinfluss, der mich völlig benebelte und Lücken in meinen Erinnerungen zurückliess.
In den Jahren darauf befand ich mich in einem stetigen Auf und Ab. Mit 23 Jahren zog ich von Zuhause aus, was ein langer, aber stetiger Prozess des Begreifens einläutete. Ich kehrte für Familienbesuche nur ungern in mein Elternhaus zurück. Solche Treffen wurden immer mehr zur Belastung. Warum genau, konnte ich damals noch nicht sagen, vermutete aber, dass es etwas mit meinem Vater zu tun hat.
Mein Vater machte es mir zudem schwierig, ihn als Grund für mein Leiden zu erkennen.
Diese These blieb aber lange bloss eine vage Vermutung. In Therapiestunden wurde sie nie weiter verfolgt und auch ich selber dachte kaum weiter darüber nach. Schliesslich schienen die Gründe für mein Leiden viel einfacher. Meine Mutter war ja bereits ihr Leben lang bipolar; und eine Vererbung an mich war damit nicht ausgeschlossen.
Mein Vater machte es mir zudem schwierig, ihn als Grund für mein Leiden zu erkennen. Zu sehr beherrschte er es, sich als liebevolle Persönlichkeit zu maskieren. Er beherrscht es so gut, dass er sich sogar bis heute selber etwas vormacht.
Mein Vater sieht nie bei sich das Problem. Stets ist das Umfeld, häufig meine Mutter, die Auslöserin für seine Ausraster. Dies beteuerte er mir und meinem Bruder gegenüber immer wieder mit Nachdruck – hochgradig manipulativ. Heute weiss ich, dass dieses aggressive Verhalten unter die Kategorie «häusliche Gewalt» fällt und niemals gerechtfertigt ist.
Gefangen im Selbstmitleid
Genauso manipulativ war sein Mantra. Er ist der festen Überzeugung, alles für uns gemacht zu haben. Das zu wiederholen, wurde er nie müde. Immer wieder brachte er das Einfamilienhaus ins Spiel, dass er finanziert hat - natürlich nur für uns. Ob wir dieses überhaupt wollten, spielte nie eine Rolle. Trotzdem verlangte mein Vater, dass wir uns auch noch im Erwachsenenalter darum kümmern sollten. Zum Beispiel, wenn Renovationen anstanden. Wenn wir keine Zeit hatten, liess er uns seine Enttäuschung spüren. Er fühlte sich von der eigenen Familie benachteiligt. Ein Gefühl, dass er wiederum auf meine Mutter projizierte. Er sagte ihr, dass er jetzt an der Reihe sei, nachdem er ihr depressives Verhalten jahrzehntelang ausgehalten habe.
Es ist ein Verhalten, das stark für eine narzisstische Störung spricht. Alle anderen seien schuld an seinen Problemen und an seiner Unzufriedenheit. Diese Verbitterung machten ihn immer mehr zum Eigenbrötler. Alle sind zu empfindlich, egoistisch, essen zu viel Fleisch, fahren beschissen Auto oder triefen vor Geltungsdrang und wollen sich jetzt plötzlich keinem Geschlecht mehr zuweisen.
Diese soziale Verdrossenheit führte ihn dazu, sich ein Grundstück in Portugal zu kaufen. Das ist seine «Belohnung» für seine massivste «Aufopferung» für die Jahre, die er der Familie geschenkt hat. Und nicht nur das: Er hat das natürlich auch wieder für uns getan. Jahrelang hat er seine Wünsche und Träume auf uns projiziert und wenn sie scheiterten, hat er uns dafür verantwortlich gemacht.
Goofy in den Regierungsrat
Trotz all dem sah ich mein Vater sehr lange als Vorbild und allwissende Instanz. Das hatte auch mit seiner starken Meinungsdominanz zu tun. Zu jedem Thema äusserte er seine kritische, meist nicht gesellschaftstaugliche Meinung, die mich ebenfalls negativ prägte.
Dazu kam eine extreme Politikverdrossenheit. So füllte mein Vater beispielsweise einst Wahlzettel mit Namen wie «Donald Duck» und «Goofy» aus, wie er stolz allen erzählte. Es seien schliesslich alles Halbschuhe und so kann man «denen da oben» zeigen, was man von ihnen hält. Diese Haltung mündete in Misstrauen zu Staat und Politik. Mein Vater entwickelte eine Neigung zu Verschwörungstheorien und wurde unfähig, politische Diskussionen auf sachlicher Ebene zu führen.
In Streitsituationen zeigte sich die narzisstische Seite meines Vaters besonders stark. Es gab nur zwei Optionen: Entweder er erzwang sich die Gültigkeit seiner Argumente durch Aggression und Einschüchterung; oder er versetzte sich in eine Opferposition, da er ja sowieso immer alles falsch und nie etwas richtig machen könne. Das sind schwierige Voraussetzungen, um Probleme zu lösen.
Ich wurde zu meinem Vater
Zudem war mein Vater dadurch ein denkbar schlechtes Vorbild für mich. Etwas, das ich erst im Alter von 30 Jahren mit grosser Mithilfe meiner Partnerin und meines Therapeuten realisierte. Lange dachte ich, unsere Familiendynamik und das Verhalten meines Vaters seien etwas Normales. Ich schlussfolgerte, dass das Problem deshalb bei mir liegen müsse. Es ging soweit, dass ich das narzisstische Verhalten meines Vaters in Streitsituationen mit meiner Partnerin imitierte.
Ich wurde aggressiv und nutzte die Opferposition, um dieses Scheissverhalten zu rechtfertigen.
Ich tat also genau das, was mich jahrzehntelang verletzte und in mir selbst Traumata auslöste, der Person an, die ich auf diesem Planeten am meisten liebe. Ich wurde aggressiv, einschüchternd und nutzte die Opferposition, um dieses Scheissverhalten zu rechtfertigen. Es macht mich beim Schreiben dieser Zeilen verdammt wütend auf mich selbst.
Heute weiss ich, dass die Probleme meines Vaters, respektive jene meiner Eltern nicht meine sind und ich mich davon abgrenzen darf und sogar muss, um mich selber zu schützen. Ich weiss, dass ich weder das aggressive, negative Verhalten noch die Wünsche und Träume meines Vaters leben muss und meinen eigenen Umgang mit Problemen finden kann. Ich arbeite hart an mir und habe das Glück, die richtigen Menschen dazu zur Seite zu haben.
Abgrenzen und gehen lassen
Aber wieso schreibe ich diesen Artikel? Er soll nicht dazu dienen, das Verhalten meines Vaters zu verteufeln. Denn ich weiss heute, dass sein Verhalten, das ich lange imitierte, für mich wie auch für ihn eine Schutzfunktion in emotional belastenden Situationen hat. Ausserdem ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung eine diagnostizierbare, psychische Erkrankung. Das heisst, die Erkrankung kann mittels Therapie behandelt werden. Mein Vater kann und möchte jedoch trotz mehrmaliger Versuche, ihm die Hand zu reichen, nicht an sich arbeiten. Vor einem halben Jahr zog ich deshalb Konsequenzen und distanzierte mich komplett von ihm.
Dieser Beitrag soll alle ermutigen, sich von ihrem toxischen Umfeld zu lösen, selbst wenn es sich um die nächsten Verwandten handelt. Denn, obwohl das Konstrukt Familie in unserer Kultur einen sehr hohen Stellenwert hat, ist das eigene Wohlergehen wichtiger als eine gesellschaftliche Norm. Manchmal muss man im Leben jemanden gehen lassen, um sich selber zu schützen.
In einem zweiten Teil geht es am Mittwoch darum, was man tun kann, wenn der eigene Vater zum Verschwörungstheoretiker wird.