Programmvorstellung
Tränen, Wut und allerlei andere Gefühlsausbrüche: Eine Verortung des diesjährigen Festivalprogramms auf dem Sonnenberg.
Benedikt Sartorius — 03/22/22, 05:41 PM
Am totalen Umsturz nicht abgeneigt: Authentically Plastic. (Foto: zvg)
Bald gehts wieder rauf auf den Sonnenberg, denn das B-Sides hat am Dienstag sein Programm bekanntgegeben. Unser Marktschreier ruft zehn Auftretende aus.
Wie viel Nähe darfs denn sein? Wie viel Direktheit auch? Nun, nur keine Angst. Denn Tirzah Mastin singt ihre Songs über die Liebe und Formen der Freundschaften schon recht ungefiltert, aber nie übergriffig oder ranschmeisserisch. Vielmehr vermisst sie die tektonischen Verschiebungen und Hoffnungen in unseren gemeinschaftlichen Beziehungen sehr genau. Das war nach fantastischen Singles wie «I'm Not Dancing» auf ihrem Debütalbum «Devotion» und im vergangenen Jahr auf «Colourgrade» zu hören, das sie wie fast alle ihre Songs mit ihren Freund:innen Mica Levi und Coby Sey aufgenommen hat.
Ein verbindlicheres und doch verstrahlteres Album gab es in der jüngeren Musikgeschichte jedenfalls kaum. Was sich aber unbedingt empfiehlt beim Konzert von Tirzah? Besser schweigen, und genau zuhören. Danach dann: die grosse Umarmung, und wohl auch viele Tränen.
Open the Gates! Und wenn die Tore nicht offen sind, dann stürmt sie das Kollektiv um die Poetin Camae Ayewa mit ihrem drängenden Free Jazz für die Gegenwart. Bei Irreversible Entanglements gehts um Befreiung, um Emanzipation, um Protest gegen rassistische (Polizei-)Gewalt und um die Geschichte dieser grossen afroamerikanischen Musik auch, denn Ayewa und ihre grossartigen Komplizen – nennen wir die Namen: Keir Neuringer am Saxophon, Aquiles Navarro an der Trompete, Luke Stewart am Bass und Tcheser Holmes am Schlagzeug – wissen genau, an welche Traditionslinien des Widerstands sie anknüpfen.
Irreversible Entanglements haben mit dieser Musik von den Strassen des Protestes, wo sie zum ersten Mal gemeinsam aufspielten, längst auf die Jazzfestivalbühnen gefunden. Und von dort nun: direkt auf den Sonnenberg, wo uns Camae Ayewa bereits zum Schluss des Eröffnungsabends als Moor Mother mit ihren harschen Sounds und radikalen Worten konfrontieren wird. Wer Eskapismus und einfache Versöhnung sucht? Sollte besser weitergehen.
Dort, wo Du mich am B-Sides finden wirst, wird auch Zooey Agro sein. Was ein Leichtes sein wird. Denn an der Berlinerin gibt es am Festival kein Vorbeikommen. Gleich viermal tritt sie auf: mit der grossen Free-Band 13 Year Cicada, mit ihrem Duo Tommy Lobo, an der Seite des Berner DJs und Produzenten Trillion Tapeman und als Teil von Rahel’s and Zooey’s Fat Stretch.
Immer dann, wenn Zooey Agro auf der Bühne stehen wird, wird alles möglich sein. Ausgeschlossen ist eigentlich nur: Langeweile. OOYes!
Vor Zooey Agro beziehungsweise vor 13 Year Cicada lässt man sich aber besser neu verdrahten und verkabeln und auch eintrommeln und einräuchern von den einschlagenden Omni Selassi.
So punktgenau, so frei, so intuitiv und unabsehbar kann nur eine hardworking Band spielen. Zur Vorbereitung empfohlen ist die Monstersingle «Cashew Carry», die alle anderen Glocken vergessen lässt.
Was kann eine Band, was ein loses Projekt nicht kann? Hört Omni Selassi. Oder eben auch District Five, die am kommenden Freitag ihr lang erwartetes Debüt «Burnt Sugar» auf dem Label A Tree in a Field veröffentlichen. Die vier Musiker suchen und finden auf diesem Album eine Musik, die sich innerhalb der vielen Popsprachen (oder ist es doch Rock?) sprachen frei bewegt.
Aber nicht, dass hier etwas Ungefähres entstanden ist. Denn District Five sind heavy und leicht, angriffig und zart, oder wie sie es selber schreiben: «Searching together for something like freedom in a trapped world».
Aus Kampala, Uganda reist Authentically Plastic an, die in ihrer Heimat mit Clubnächten alles subvertiert, was es zu unterlaufen und umzustürzen gibt: autoritäre Genderbilder, eingeschliffene Musikmuster, reaktionäre Zuschreibungen der Medien, die in ihrer queeren Identität das Dämonische schlechthin ausmachen.
In so einem Klima ist der frenetisch-tanzende Authentically-Plastic-Techno natürlich nur eines: hochpolitisch.
Vor der Bergtour lockt auch anderes: Weit vor dem Festival das Warm-up in der Johanneskirche mit dem Aufeinandertreffen von Lisa Morgenstern und Jon Hood (am 19. Mai), mit Anouchka Gwen in der Voliére (10.6.) oder mit «Jackie» und dem Meister:innensoundtrack von Mica Levi im Poolkino (15.6). Und natürlich der fast schon traditionelle Walk in den Bellpark.
Dort ist am Festivalfreitag Leoni Leoni anzutreffen, mit ihren ozeanisch zerfliessenden Tape- und Keyboardtracks über die Schlaflosigkeit, über den Mond, Drum-Probleme und Frau Schluchter. Sweet dreams? Ja schon, aber nicht nur.
Was macht er nur auf der Bühne, so ungeschützt, so verletzlich, so angreifbar? Nun, vielleicht zündet Elischa Heller ja bloss ein Feuerchen an, spaziert dann weiter, lässt einen Popsong-Clip vom Compi los, bricht ihn ab, setzt sich wieder hin, brutzelt weiter, und ich schaue zu, bis zum nächsten Crash und der ewigen Stille. Schärft alle Sinne, es ist grossartig.
Was macht eigentlich die Familie? Sie kommt selbstverständlich mit, aber nur am Samstagnachmittag, haha. Und sie wird sich einfinden in der ersten Reihe, wenn King Pepe und seine Queens ihre ewig-träfen Songs für den Moment singen wird.
Und wir werden das Licht sehen, wenn der gebrochene Prediger mit der falschen Krone etwas schönes kaputtmachen wird – und die Ewigkeit zur Hölle schickt. Wird guet, weil sein Karma ist schwer okay.
Fire, zum Schluss. Denn der superpräsente Kevin Martin stellt sein Soundsystem auf die dicht vernebelte B-Stage und lässt den Bass-Druck auf uns los, der alles ins Zittern und Beben bringt. Wer einen Nachbarschaftsstreit provozieren wollte, hörte sein aktuelles Album «Fire» mit dem Instant-Klassiker «Pressure» zu besten Homeoffice-Zeiten.
Aber den Druck des atemraubenden Industrial-Dubs, für den Martin als The Bug bekannt ist, gibts nur vor Ort, zumal das Set von Dis Fig (die das Festival mit einem DJ-Set beschliessen wird) und den MCs Flowdan und Logan weiter verstärkt wird. Nach ihm: der Bergsturz. Anders: 🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥🔥
Weiter vorfreuen auf das B-Sides? Nur zu, denn Luce & Pet Owner, Hanreti & die Antarktis-Expeditionsgruppe, Kush K, Tout Bleu, Noria Lilt, Kopfkino Kollektiv, Obertonstruktur der Kaulquappe, Malummi, Soukey, KT Gorique, Coals, Flèche Love, Bendik Giske, Remo Helfenstein, Pelada, Apinti + m.k.moon, Ophelia's Iron Vest, Brandy Butler und Kaira Edward, Fatima Moumoni und Laurin Buser, Möf, Joanne Robertson, Eartheater, Smerz, Batbait, WaqWaq Kingdom, Ina Valeska und Endless Bazaar sind auch alle da.
b-sides.ch, 16. bis 18. Juni, 2022
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