Eine Bar macht auf Pizzalieferdienst, ein Konzerthaus wird zum Probelokal und ein Festival will Livemusik retten. So improvisiert die Zentralschweizer Kulturszene während der zweiten Corona-Welle.
Ronnie Zumbühl — 11/23/20, 11:10 AM
Plötzlich Pizzaiolo: Raphael Märki führt neben dem Klub Kegelbahn und dem Kaffee Kind nun auch noch einen Pizzalieferdienst. Bild: Kultz
Raphael Märki steigt die Treppe hinunter in den Keller, wo sich die Küche der Bar Kaffee Kind befindet. Er bindet sich eine Schürze um, schaltet die Musik an und wäscht sich die Hände. Diese Szene spielt sich im Leben des 38-Jährigen derzeit jeden Tag ab. Vor rund einem Monat hat er den Lieferdienst Disco Pizza lanciert. Neben seinen sonstigen Arbeiten im Gastrobetrieb steht er nun jeden Tag für mindestens vier Stunden in der Küche. Dort produziert er den Teig für die Pizzas, die am Abend ausgeliefert werden. «Das ist eigentlich verrückt. Gleichzeitig ist es die schönste Arbeit – ich mache etwas mit meinen Händen und kann mir viele Gedanken machen.»
Eigentlich ist Märki Betreiber vom Klub Kegelbahn und der Bar Kaffee Kind in der Luzerner Baselstrasse. Der Klub musste vor rund einem Monat coronabedingt schliessen, in der Bar herrscht eingeschränkter Betrieb. Diese aussichtslose Situation beflügelte Märkis Unternehmergeist. Die Idee vom Pizza-Lieferdienst schwebte ihm schon länger vor. «In der Gastroszene darf man nie stehen bleiben, man muss sich immer neu erfinden.» Die Corona-Krise habe ihm einen Ruck gegeben, die Idee umzusetzen. «Wir sind jetzt im Survival-Modus – entweder du frisst oder du wirst gefressen.»
Grafiker am Pizzaofen
In Märkis Küche liegen die Pizzateige, die er bereits am Morgen vorbereitet hat. Er übergiesst sie mit Olivenöl und legt sie in eine rechteckige Form. Daraus entstehen später die sogenannten «Detroit-Style-Pizzen», bei denen der Teig luftiger und mit Käse angereichert ist. Für die Pizzaproduktion hat er nicht gelernte Pizzaioli angestellt, sondern vier Grafikerinnen und Grafiker. «Die haben geschickte Hände und das richtige Auge für die Pizzen», sagt Märki.
«Ich hoffe, in einem Monat geht die Rechnung auf.»
Raphael Märki, Betreiber Discopizza
Für das neue Geschäftsfeld waren jedoch einige Investitionen nötig. Märki beschaffte sich einen neuen Pizzaofen und weitere Einrichtungen. Das scheint sich nun auszuzahlen. Der Lieferservice sei sehr gut angelaufen. «An einem guten Abend werden fünfzig Pizzen ausgeliefert», sagt Märki. Er führt das auf ein gutes Netzwerk zurück. «Ich hoffe, in rund einem Monat geht dann die Rechnung auf.»
Im Haifischbecken
Die Einnahmen können die Umsatzverluste des Klubs nebenan nicht aufwiegen. Für die Kegelbahn hat Märki zwar den Umsatzverlust bei den Behörden angegeben, erhalten hat er vom Staat aber noch nichts. Nach der ersten Welle erhielt er jedoch einen zinsfreien Kredit. «Zum Glück ist mir mein Vermieter bei der Miete entgegengekommen.»
Obwohl er wirtschaftlich momentan am Limit fährt, kann Märki der Krise aus kultureller Sicht etwas abgewinnen. Ein neuer Drive tue der Musikszene wohl gar nicht so schlecht. «Vielleicht entsteht aus dieser Krise eine geile neue Musikbewegung.»
Alles Gewinner
Marco Liembd grüsst, betritt die Schüür und sagt: «Chopf abe und dure.» Es ist quasi der Leitsatz vom Geschäftsführer des Konzertlokals in der Nähe des Luzerner Bahnhofs, wenn es um die Coronakrise geht. In der ebenerdigen Bar, die er nun behelfsmässig als Büro nutzt, ergänzt er: «Der Schüür geht es grundsätzlich gut.»
Seit Montag ist das Konzertlokal ein Probehaus. Musikerinnen, Technikerinnen und Veranstalter können Raum, Infrastruktur und Personal «zu einem bescheidenen Betrag mieten», sagt der 40-Jährige. Die Differenz übernimmt die Albert Koechlin Stiftung. «Bei Konzerten haben Bands immer zu wenig Zeit für Soundchecks, nun können sie sich Zeit nehmen.» Die erste Band probte bereits letzten Sonntag. Liembd spricht von einer Win-Win-Situation, denn die Schüür konnte somit ihre Angestellten im Bereich Technik aus der Kurzarbeit zurückholen.
Solidarität mit den Nachbarn
Das Angebot scheint anzukommen. Die Ankündigung der Umnutzung sorgte auf der Schüür-Facebookseite für Rekordwerte. «Wir hatten glaubs noch nie einen so erfolgreichen Facebook-Post.» Die Idee dazu entstand, nachdem die Schüür am 19. Oktober den Konzertbetrieb einstellen musste. «Uns war dann schnell klar, dass wir das Haus alternativ nutzen wollen», sagt Liembd. «Ob die Kulturhäuser offen haben oder nicht – sie sind da und können benutzt werden.» Das Schüür-Team habe sich überlegt, zwischenzeitlich eine Beiz zu führen. «Schlussendlich wollten wir die Gastro-Betriebe in der Nachbarschaft aber nicht zusätzlich konkurrieren.»
Die Bar ist nun sein Büro: Schüür-Geschäftsführer Marco Liembd hat im Konzertlokal Einiges umgestellt. Bild: Kultz
Liembd ist optimistisch, dass das Konzerthaus einigermassen gut durch die Krise kommt. «Unsere kulturellen Schäden sollten von Bund und Kanton bis Ende 2021 abgedeckt werden. Zudem hat der Betrieb Kurzarbeit bewilligt bekommen.
Kein Geld für «Halligalli»
Für ein Konzerthaus funktioniere das Entschädigungssystem des Staates, für Klubs aber nicht. Partyorganisatoren haben im Kanton Luzern kein Anrecht auf Ausfallentschädigungen. «Laut Gesetz sind das per se Halligalli-Veranstaltungen», sagt Liembd. Anders in Zürich. Dort fängt die Stadt die Klubs auf – der Kanton aber entschädigt diese genauso wenig.
«Kulturbetriebe sorgen für eine grosse Wertschöfpung.»
Marco Liembd, Geschäftsführer Schüür
«Wenn jemand findet, dass sich die Kultur immer durchschlängeln kann, ist das nicht zu Ende gedacht», sagt Liembd. Schliesslich sei die Kulturszene mit weiteren wichtigen Branchen wie zum Beispiel Brauereien gekoppelt. «Kulturbetriebe sorgen auch für eine grosse Wertschöfpung.» Letztendlich stört sich Liembd daran, dass immer wieder über deren Notwendigkeit diskutiert wird. «Damit nimmt man uns die Zeit, darüber nachzudenken, wie wir überhaupt bestehen können.»
«Eigentlich ziemlich spannend»
Esther Unternährer serviert einen Früchtetee mit frischer Zitrone und Ingwer aus der Thermoskanne. Die Co-Leiterin der Stanser Musiktage (SMT) arbeitet vorübergehend im Gemeinschaftsraum ihrer Wohnsiedlung Teiggi in Kriens. Das Festivalbüro in Stans ist wegen der Corona-Pandemie oft verwaist. Das SMT-Team trifft sich nur einmal pro Woche vor Ort im Büro. Ihr Arbeitsalltag hat sich in den vergangenen Monaten stark verändert. «Es ist nicht nur der Arbeitsort und die vielen Zoom-Sitzungen.» Sie und Candid Wild seien momentan mehr Krisenmanager als Festivalleitung. «Ich finde das aber ziemlich spannend», sagt die 37-Jährige. Denn nach acht Jahren Festivalleitung habe sich eine gewisse Routine eingeschlichen. «Immerhin etwas Positives in der ganzen Situation.»
Esther Unternährer blickt in eine ungewisse Zukunft: Die Co-Leiterin der Stanser Musiktage arbeitet bereits am dritten Corona-Konzept. Bild: Kultz
In diesem Jahr ist alles anders. Im Frühling musste das Festival kurz vor der Durchführung abgesagt werden. Die Bands waren gebucht, die Plakate und das Programmheft bereits gedruckt, als der Bundesrat das Veranstaltungsverbot verlängerte. «Ich möchte nicht jammern», sagt Unternährer. «Wir haben grosse Solidarität von den Geldgebern erfahren, da wir eines der ersten Festivals waren, die nicht stattgefunden haben.»
Das Gejammere gehe ihr sowieso auf die Nerven, da es niemandem etwas bringe. «Niemand wollte dieses Virus – es ist einfach da.» Klar treffe es Kulturschaffende und die Gastro-Szene ungleich mehr. Entscheidend sei deshalb, dass man für die Mittel einstehe, auf die man Anspruch habe. «Wir sind in der privilegierten Situation, dass wir Kurzarbeit beantragen konnten», sagt Unternährer.
Kein Zelt auf dem Dorfplatz
Die SMT-Festivalleitung arbeitet bereits am dritten Veranstaltungskonzept für die 25. Ausgabe des Festivals im Frühling 2021. Die ersten zwei Konzepte mussten verworfen werden, weil sie durch die Corona-Massnahmen des Bundes im letzten halben Jahr obsolet wurden. 2021 soll das Festival definitiv stattfinden. Es stellen sich jedoch noch ungelöste Fragen: «Was ist möglich und gleichzeitig verantwortbar», sagt Unternährer.
«Wir glauben nicht, dass die Menschen Lust auf ein digitales Festival haben.»
Esther Unternäher, Co-Leiterin Stanser Musiktage
Klar ist: «Wir wollen Live-Erlebnisse beibehalten. Konzerte sind unsere Essenz. Gleichzeitig liegt uns die Gesundheit unserer Besucherinnnen und Besucher am Herzen. Es gilt, immer das Gleichgewicht zu finden.» Dabei haben die SMT den Vorteil, dass sie dezentral organisiert. Das heisst, es gibt viele verschiedene Konzertlokale, die sich über Stans verteilen. Sicher ist jedoch ebenfalls, dass feste Festivalbestandteile der Pandemie zum Opfer fallen werden. Klassische Treffpunkte wie das Esszelt oder das Dorfplatzzelt wird es in der Ausgabe 2021 nicht geben.
Das Festival komplett ins Internet zu verschieben, kommt für Unternährer nicht infrage. «Das reizt uns zu wenig. Zudem glauben wir nicht, dass die Menschen nach einem Arbeitstag im Homeoffice noch Lust haben auf ein digitales Festival.»
Ronnie Zumbühl ist in Nidwalden aufgewachsen und Teil der Kultur- sowie der Satireredaktion von Kultz.ch. Zumbühl lebt in Luzern, arbeitet als Journalist beim «Zofinger Tagblatt» und schreibt für Kultz und die «Titanic».