Prime Time
«Nomadland» wurde mit Preisen überschüttet, unter anderem dem Oscar für den besten Film. Dies ist nicht immer ein Gütesiegel, hier aber verdient: Frances McDormand brilliert in einem der meisterwarteten Filme von 2021.
Sarah Stutte — 06/11/21, 12:12 AM
Frances McDormand und David Strathairn – zwei Hollywood-Grössen spielen zusammen mit echten Nomaden. (© The Walt Disney Company Switzerland. All Rights Reserved.)
Die 60-jährige Fern hat nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch ihre Beschäftigung in einer Mine im ländlichen Nevada. Als Folge der Finanzkrise von 2008. Die Arbeiterstadt mit dem klingenden Namen «Empire» gleicht nun eher «Lost Town», weil sie inzwischen ausgestorben ist. Deshalb kehrt auch Fern dem konventionellen Leben den Rücken, setzt sich in ihren alten Van, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und findet in der Weite des Südwestens neue Freunde und ihre Freiheit.
Selten kommt es vor, dass ein Film, der mit Auszeichnungen überhäuft wurde, jede einzelne davon auch wirklich verdient hat. Drei Oscars – namentlich für die beste Regie an die erst zweite Frau in der Geschichte der prestigeträchtigen Verleihung, für den besten Film und die beste Hauptdarstellerin – sowie über 200 weitere internationale Film- und Festivalpreise sprechen im Grunde für sich, sagen aber längst nicht alles.
Denn «Nomadland» ist nichts weniger als ein Erlebnis, das von der grossen Leinwand in Wellen direkt in unser Leben schwappt und dieses noch lange in Bewegung hält. Wir reisen mit Fern in ein uns weitgehend unbekanntes Amerika. Wir lernen Verlierer der Gesellschaft kennen, die gerade in dieser ihnen aufgezwungenen Unabhängigkeit ihre Stärke gefunden haben. Deshalb bleibt der Film trotz seiner melancholischen Grundstimmung stets hoffnungsvoll.
Die gebürtige Chinesin Chloé Zhao, die hier Regie führte und das Drehbuch schrieb, bediente sich schon in ihren beiden früheren Langfilmen «Songs My Brothers Taught Me» (2015) und «The Rider» (2017) stilistisch einer Mischung aus Fiktion sowie realen Figuren als Laiendarsteller. Dadurch lassen vor allem die Szenen mit den tatsächlichen Nomaden wie Linda May, Swankie und Bob Wells mitunter vergessen, dass es sich hier um eine fiktionale Geschichte handelt. Alles wirkt so geerdet, weil nichts ausgespart wird. Nicht der Schmerz in den Augen von Bob Wells, als dieser von seinem Sohn erzählt. Noch nicht einmal eine Frances McDormand, wie sie mit Durchfall auf dem Klo sitzt.
Alles wirkt so geerdet, weil nichts ausgespart wird.
Gerade sie, die sich wie selbstverständlich in diese homogene Gruppe «echter» Menschen einfügt, ist einmal mehr eine emotionale Wucht. Sie schafft es, uns noch in ihren Momenten grösster Griesgrämigkeit mitten ins Herz zu treffen. Nicht nur vor der Kamera war die US-amerikanische Schauspielerin die treibende Kraft, sondern auch dahinter. Schon früh sicherte sie sich die Rechte an der Vorlage: Ein Sachbuch der US-amerikanischen Journalistin Jessica Bruder über das Überleben sogenannter Nomaden der Arbeit im 21. Jahrhundert.
«Nomadland» ist ein Glanzstück in wunderschön fotografierten Bildern. Es erzählt von den Menschen, atmet dabei das Leben in jedem Augenblick und macht uns bewusst, dass wir erst frei sind, wenn wir uns frei fühlen und dass in jedem Ende stets ein neuer Anfang liegt.
«Nomadland», ab jetzt im Kino Bourbaki in Luzern
Regie: Chloé Zhao, mit: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May
Prime Time ist das Kultz-Format für Film und Fernsehen. Jeden Freitag schreiben Sarah Stutte und Heinrich Weingartner über die neuesten Blockbuster, Arthouse-Streifen und gehypten Serien.