Fotos: Ingo Höhn.
Das Luzerner Theater bringt einen neuen Tell auf die Bühne – beziehungsweise auf den Bildschirm. Als solides Handwerk mit kleinem Haken.
Jana Avanzini — 03/15/21, 03:25 PM
In einem Gebirge aus Silber und Schwarz, Feuer und Schnee, kämpfen sich Vater und Sohn durch eine düstere Welt voller Unwetter und verlorener Gestalten. «Gehören wir noch zu den Guten?», fragt Walter seinen Vater Tell, der vor langem den Gessler erschoss. Ob das eine gute Idee war, darüber lässt sich im zeitlosen Heute der Inszenierung offenbar streiten.
Nach «Taylor AG», der dystopischen KI-Theater-Serie im vergangenen Jahr, hat sich Regisseur Franz von Strolchen diese Saison dem Tell-Stoff angenommen. Und diesen in eine endzeitliche Urschweiz verlegt. Die Armbrust passt ja auch perfekt in den apokalyptischen Überlebenskampf.
Atomendlager und tote Murmeli
Man kann nichts sagen: Der Stoff kommt vielschichtig daher, das Material wurde solide recherchiert und als Zentralschweizer*in wird man erfreut über so einige Anspielungen auf die hiesige Historie stolpern. Auch die filmische Lösung, auf die das Luzerner Theater wegen der Pandemie zurückgreift, funktioniert dank der Umsetzung von Videokünstler Jonas Ruppen als Mischung aus Apokalypse-Streifen, bespielter Kunst-Installation und Sonntags-Tatort.
Der Tell-Mythos wird in ein apokalyptisches Setting verlegt. Wie so viele Stücke heutzutage.
In einer Art Verhörraum erzählen die Figuren rückblickend in die unterschiedlichsten Urschweizer Zeiten. Und erst spät im Stück wird klar, wem sie hier Rede und Antwort stehen. Wem sie erzählen vom menschgemachten Wetter, von Gerechtigkeit – auch für Männer – , vom Kampf gegen das Wellenberg-Atomendlager in Nidwalden. Und dem globalisierten Kapitalismus. Alle kämpften sie gegen die Obrigkeit, gegen die Fremdbestimmung: das geliebte und stets hochgehaltene Selbstbild unserer verstockten Urschweiz.
Die Zeugen – oder die Beschuldigten? – sind die Überlebenden der Apokalypse (Olivia Gräser, Sophie Hottinger, André Willmund und Christian Baus). Wandernde, die sich vermummt über einem toten Murmeli begegnen und es teilen. Obwohl niemand sagen kann, dass alles wieder wird wie früher. Auf dem Rütli, wo man grillieren darf, schwören sie, sich die Menschlichkeit zu bewahren.
Text topp, Tell topp
Christian Winklers Text trifft. Auch bei den Dialogen von Vater und Sohn, die von Konflikten, von Nähe und Verständnis handeln. Ihre Reise endet in der hohlen Gasse zu Küssnacht. Wo Angst und Rache, oder die gerechte Notwehr eines Vaters, verschwimmen und wo niemand mehr Held ist. «Es gibt keine Helden. – Wir können nicht aus der Vergangenheit lernen.» Christian Baus darf als österreichischer Herzog das Fazit verkünden. Und auch als einziger darf er dem Dialekt frönen.
Trotz witziger Einfälle in Text, Spiel und Kostümen (Katrin Wolfermann) wird das Komische von einer erdrückenden Stimmung gedämpft. Die Bilder sitzen, von Trash bis zu perfektem Kitsch. Und kurz vor Schluss setzen sie noch einen drauf – eine Träne fällt auf das heimische Sofa.
Fritz Fenne spielt Tell mit einer beinahe greifbaren Körperlichkeit und sehr überzeugend.
Das liegt nicht zuletzt an der musikalischen Umsetzung (Timo Keller). Und am wahnsinnigen Spiel von Fritz Fenne. Ein gebrochener Tell, der alles dafür gibt, seinen Sohn (Fynn Liam Dettwyler) zu retten. Sich aufbäumend, in einer Körperlichkeit, die nach mir greift – so als sässe ich in der ersten Reihe.
Heerscharen von Apokalypsen
Es gab Tränen vor dem Bildschirm, das wurde bereits zugegeben. Aber halt auch etwas Enttäuschung beim ersten Blick auf das Setting: Die Apokalypse.
Das Theater gibt sich den Dystopien derzeit hin, als gäbe es kein Morgen. Seit gefühlten fünf Jahren kann man sich sein komplettes Kulturprogramm aus endzeitlichen Inhalten zusammenstellen – musikalisch, in Film, in Dichtung, sogar in Sachliteratur. Und das ist ja auch irgendwo verständlich. Auch schon vor der Pandemie war es das.
Die Dystopie sei ein Aufruf zum Aktionismus, schrieb die Philosophin Agnes Heller. Darin sei der Widerstand gegen Misstände angelegt. Ein schöner Gedanke eigentlich, dem sich die Künste offenbar einmal mehr verschrieben haben. Doch braucht es nicht auch Hoffnung für Aktionismus? Leidenschaft und klugen Humor?
Oder auch doofen Humor. Egal. Ich freue mich jedenfalls sehr auf das nächste Stück fernab jeglicher Dystopie.
Am 26. März 2021 um 19.30 wird die Film-Version von «Tell – Eine wahre Geschichte» nochmals auf der Webseite des Luzerner Theaters gezeigt. Sobald die Theater wieder öffnen, will das Theater das Stück dann auch auf der Bühne zeigen.